Markus Till: "Megatrends im freikirchlichen und pietistischen Umfeld evangelikaler Prägung"
- theobreisacher
- 12. Mai
- 5 Min. Lesezeit
Eröffnungsreferat auf der Konferenz Jesus25 vom 8. bis 10. Mai 2025 auf der Langensteinbacher Höhe: Bericht und Kommentar von Theo Breisacher

Zunächst identifizierte Markus Till vier Milieus unter evangelikal geprägten Christen in Deutschland:
Vier Milieus | Grundüberzeugungen
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A) Klassische Evangelikale: | 1) Bibel als oberste Autorität in allen Fragen des Glaubens und des Lebens 2) Im Zentrum steht Jesus Christus, der als wahrer Gott und wahrer Mensch zum Erlöser der Menschen wurde 3) Sühnetheologie eine der Kernbotschaften 4) Ethik: Ablehnung von praktizierter Homosexualität |
B) Konfessionelle: | Inhaltlich nahe bei den klassischen Evangelikalen; jedoch mit einzelnen zusätzlichen konfessionellen Themen, die für sie von zentraler Bedeutung sind |
C) Post-Evangelikale/ Progressive: | 1) Die Bibel als in ihrer Gesamtheit offenbartes Wort Gottes ist fraglich geworden 2) Ablehnung des Sühnetodes Jesu 3) Ethik: haben keine Probleme mit praktizierter Homosexualität und damit verbundenen Fragen |
D) Die Pragmatischen: | 1) Versuchen die inhaltlichen Differenzen zwischen A und C zu überbrücken 2) man begnügt sich mit einem theologischen Minimalismus: man erklärt manche Streitfragen als nicht zentral 3) der lebendige Christus als Person ist verbindend angesehen zwischen den theologischen „Lagern“ 4) Praxis hat Priorität vor der Lehre |
Nach dieser Übersicht über die vier von ihm identifizierten Milieus skizzierte er vier Megatrends im deutschsprachigen evangelikalen Raum:
Megatrend 1: Verlust der Selbstverständlichkeit
Der untheologische Pragmatismus der „Pragmatischen“ habe nur funktioniert, weil bei vielen pietistisch-evangelikal geprägten Christen zunächst noch eine solide biblisch-theologische Basis vorhanden gewesen sei. Dies habe sich nun allerdings geändert. Denn: Klassische Begriffe werden plötzlich unterschiedlich gefüllt. Es gebe immer weniger Einigkeit über das Verständnis, wie die Bibel sachgemäß auszulegen sei. Bestimmte Begriffe wie „Gottes Wort“, „Christus“ oder „Evangelium“ würden zunehmend mit unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt. Dadurch gebe es immer weniger „Dinge, die man ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen“ könne.
Megatrend 2: Post-Evangelikale/ Progressive werden liberaler und missionarischer
Vertreter einer „post-evangelikalen“ Theologie seien in den letzten Jahren deutlich liberaler bzw. bibelkritischer geworden. Zugleich beobachtet Markus Till bei vielen Vertretern dieser Richtung ein großes "missionarisches" Interesse, für ihre "neuen“ Einsichten zu werben: in theologischen Fragen (z.B. Sühnetheologie), aber auch in sexualethischen Fragen. Mit „geradezu missionarischer Dynamik“ seien neue Podcasts, Vorträge und Bücher erschienen mit dem Ziel, „eine progressive Sexualethik auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld voranzutreiben“.
Als Beispiel nannte Markus Till das erst kürzlich erschienene Buch „Wege zur Liebe“ der Professoren Thorsten Dietz und Tobias Faix. Er sei erstaunt gewesen, dass die Autoren weder an Polyamorie noch an Prostitution oder Pornografie etwas grundsätzlich Falsches finden. Einziges normatives Kriterium sei die Einvernehmlichkeit. Gleichzeitigen stören sich die Autoren an Evangelikalen oder konservativen Katholiken, die die biblischen Gebote als richtungsweisend und normativ verstehen.
All das habe dazu geführt, dass der Graben zu den Auffassungen der klassischen Evangelikalen in den letzten Jahren größer geworden sei.
Megatrend 3: Neue Initiativen und Netzwerke mit klassischer evangelikaler Prägung entstehen und wachsen
Markus Till meint zu beobachten, dass die klassische evangelikale Bewegung derzeit einen Aufschwung erlebt. In den letzten Jahren sei eine wachsende Zahl von apologetischen Initiativen entstanden: z.B. „offen.bar“, „glaubendenken“, die „Daniel-Option“, der „Bibelfit-Dienst“, das „Apologetikprojekt“ oder „Profundum“.
Er beobachte mit Freude, dass Streitthemen der letzten Jahrzehnte (z.B. die Themen der Pfingstbewegung) zwischen evangelikal geprägten Christen keine so große Rolle mehr spielen. Gleichzeitig würde man durch die Herausforderung der Post-Evangelikalen zusammenrücken. Zitat Markus Till: Die evangelikale Bewegung "ist nicht am Ende. Sie steckt nicht in der Sackgasse. Im Gegenteil, ich bin mir sicher: Sie hat ihre beste Zeit noch vor sich“.
Megatrend 4: Die „Pragmatischen“ geraten in eine Zerreißprobe
Der Ansatz der „Pragmatischen“, durch einen theologischen Minimalkonsens die Brücke zwischen den klassischen Evangelikalen und den Post-Evangelikalen zu überbrücken, erweist sich immer mehr als Sackgasse. Viele Leiter würden inzwischen erkennen, dass es nichts bringt, über strittige Themen einfach einen Mantel des Schweigens auszubreiten.
Fazit von Markus Till: „Die Evangelikalen werden wieder theologischer. Sie werden mutiger. Sie werden sprachfähiger. Sie lernen wieder neu, ihre grundlegenden Glaubensschätze zu begründen und auch gegen Widerspruch zu verteidigen." -
Kommentar:
Ich habe mich gefreut, dass sich die 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmern intensiv mit den Grundlagen und Gefährdungen unseres christlichen Glaubens beschäftigt haben. Die Mehrheit der Teilnehmenden war - so mein Eindruck - zwischen 30 und 50 Jahre alt: also nicht ein paar ältergewordene Männer, die mit den Veränderungen der modernen Zeit fremdeln, sondern viele Leitungsverantwortliche aus Freikirchen und freien Gemeinden, die in den kommenden Jahrzehnten die evangelikale Welt im deutschsprachigen Raum mitgestalten und vielleicht auch prägen können.
Gleichzeitig war es eine neue (und wie ich finde sehr erfreuliche) Beobachtung: Die Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Methode und der Bibelkritik insgesamt, die wir als Landeskirchler schon seit den 60er und 70er Jahren in der Begleitung von Theologiestudenten betreiben (Krelingen, Bengelhaus, Theo-Kreise etc.) wird nun auch in den Freikirchen und freien Gruppierungen als dringende Aufgabe erkannt und wahrgenommen. Ein Autor hat das in einem der Konferenzbände sinngemäß so formuliert: Bisher haben wir das immer als Problem in den Landeskirchen und an den theologischen Fakultäten der Universitäten wahrgenommen, plötzlich hatten wir man das Thema massiv im eigenen Laden.
Kritisch könnte man anmerken, dass man in dieser Arbeit teilweise erst am Anfang steht und die Auseinandersetzung mit dem "Zeitgeist" (auf der Konferenz) zuweilen vor allem aus dem Zitieren von Bibelstellen bestand. Auch wird man einen intellektuell geprägten Zeitgenossen nicht schon dadurch für den Glauben gewinnen können, dass man ihm den Sühnetod Jesu (endlich einmal) in verständlichen Worten erklärt. Das soll die Arbeit und das Anliegen der Konferenz (und der bisher geleisteten Arbeit) aber in keiner Weise schmälern. In zwei Jahren ist eine Nachfolgekonferenz ins Auge gefasst; nicht zuletzt auch deshalb, weil man am Ende viel mehr Anmeldungen hatte, in der LaHö aber nur 600 Teilnehmer möglich waren.
Spannend dürfte die Frage in den kommenden Jahren sein, wie die Freikirchen und freien Gemeinden im deutschsprachigen Raum mit den bibelkritischen Tendenzen in den eigenen Reihen umgehen. Markus Till beobachtet, dass vor allem die "Pragmatischen" in die Zerreißprobe geraten sind, die doch Brücken bauen wollen zwischen den klassischen Evangelikalen und den sog. Postevangelikalen. Es ist zu befürchten, dass es dabei auch zu Spaltungen kommen wird (wie bereits in der Anglikanischen oder in der Methodistischen Kirchen).
Stefan Schweyer und Paul Bruderer haben die Herausforderung im Umgang mit postevangelikalen Überzeugungen im 4. Konferenzband im Blick auf die Situation in der Schweiz so beschrieben: Auf die "Verflüssigung der evangelikalen Szene" reagieren manche mit neuen Abgrenzungen innerhalb der evangelikalen Szene. Aber auch der zweite Weg sei nicht angemessen: Denn eine Profilverschiebung und Neuformatierung der theologischen Grundlagen führe nicht selten zum Bruch mit zentralen Aussagen des christlichen Glaubens. Sie schlagen deshalb einen dritten Weg vor im Sinne einer Profilschärfung: "Im Gespräch mit anderen kirchlichen und theologischen Positionen können evangelikale Einseitigkeiten erkannt werden. Die theologische Öffnugen führt nach dieser Sichtweseise zur Vertiefung dessen, was christlichen Glauben auszeichnet". Dabei sollten "evangelikale Wahrheiten beibehalten und in ein tragfähiges theologisches Konzept" integriert werden. (Band 4, 218)
Lesenswert sind ohne Frage die vier Konferenzbände "Christlicher Glaube in den Herausforderungen unserer Zeit" mit einer Vielzahl von Artikeln; für alle Teilnehmenden war sie freundlicherweise im Teilnehmerbeitrag erhalten. Bemerkenswert fand ich persönlich auch den Bezug auf die Glaubensbekenntnisse der alten Kirche: Zum Abschluss der Konferenz bekannten wir gemeinsam unseren Glauben mit den Worten des Nizäno-Konstantinopolitanums, dessen 1700. Geburtstag wir in diesem Jahr bekanntlich begehen - und das unter vielen Freikirchlern, die in ihren Gottesdiensten zuweilen nicht einmal das Vater Unser beten ...
Die beiden Hauptinitiatoren von Jesus25 war der Biologe und evangelikale Blogger Dr. Markus Till sowie Pastor Reinhard Spincke aus Hamburg, Bundessekretär der Region Nord des Bundes Freier evangelischer Gemeinden (FeG). Zum Leitungskreis von Jesus25 gehören außerdem: Peter Bruderer, Dr. Martin P. Grünholz und Dr. Frank Hinkelmann.
Das Ziel von Jesus25 ist auf der Homepage folgendermaßen beschrieben: „Wir möchten mit unserer Initiative in Bezug auf die zentralen Grundlagen des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik sprachfähig werden, diese nachvollziehbar begründen und vermitteln können und die heilsame Kraft und Schönheit der ewig gleichen biblischen Botschaft zum Leuchten zu bringen. Dazu möchten wir auch bestehende und neue Initiativen, die sich dieser Aufgabe angenommen haben, miteinander vernetzen und in Beziehung bringen, damit wir gemeinsam eine prägende Kraft und Dynamik für den deutschsprachigen Raum entwickeln können.“
12. Mai 2025 Theo Breisacher